Ausgangslage vor Ort

Die Machtergreifung der Taliban hat Migration ausgelöst. Menschen, die sich Unterdrückung erwarten – sei es nun politisch, wirtschaftlich oder gesellschaftlich – oder einfach keine Überlebenschancen mehr sehen, fliehen über Grenzen. Für einen Großteil ist das jeweilig nächste Nachbarland bereits die Endstation. Kulturelle und sprachliche Nähe, der Grad finanzieller Mittel oder auch die Hoffnung auf Rückkehr – die Gründe dafür sind unterschiedlich. Erfahrungsgemäß wird nur ein kleinerer Teil versuchen, sofort in der Ferne eine neue Heimat zu finden. Ziele hierfür sind meistens entweder Nordamerika oder die Europäische Union. Die Hoffnung auf ein besseres Leben in Form von Frieden, Stabilität und finanzieller Sicherheit ist groß.

Ausgangslage in der EU

Für die Europäische Union stellt sich jetzt die Frage, wie mit Situationen wie dieser umzugehen ist. Dazu ist ebenfalls eine Absteckung der Ausgangslage notwendig. Gerade hier ist eine besonnene und nüchterne Betrachtung besonders sinnvoll.

Rein ökonomisch und infrastrukturell ist die EU durchaus fähig, wesentlich mehr Schutzbedürftige aufzunehmen und zu versorgen als sie es derzeit tut. Allerdings ist sie psychologisch dazu nicht in der Lage. Die meisten ihrer Gesellschaften sind in der Migrationsfrage tief gespalten. Die Gründe dafür sind unterschiedlich:

1. Die EU ist in einer Phase des Überganges – organisatorisch, kulturell wie auch psychologisch. Das niedergehende neoliberale Europa ist noch nicht tot – und das neue, gerechtere und sozialere noch nicht geboren. Diese Phase der kulturellen und politischen Unsicherheit über Identität und Selbstverortung ist brandgefährlich. Denn sie verursacht Unklarheit über sich selbst und gleichzeitig eine aggressive Abwehrhaltung gegenüber Fremdem. Konservative und rechte Politiker:innen erkennen diesen sozialen/psychologischen Brennstoff – und werfen absichtlich Zündhölzer drauf. Denn die von ihnen ruinierten Sozialsysteme erhöhen den Druck auf verunsicherte Bürger:innen. Gleichzeitig werden Aggressionen mit dem Gift des Nationalismus geschürt. Vor diesem Hintergrund wird dann auch die gemeinsame europäische Außenpolitik sabotiert oder Gelder der Entwicklungszusammenarbeit gestrichen. Das wirkt destabilisierend und diese mangelnde Solidarität fördert wahrscheinlich eher das Entstehen von Migration. So gedeihen die Angst vor Fremden und Feindbildern gut. Mangelndes Vertrauen gegenüber Politiker:innen aufgrund zahlreicher Korruptionsskandale und der inhaltliche Verfall der europäischen Linken kommen zur Abrundung noch dazu.

2. Die Mitgliedsstaaten der EU sind mittlerweile gesellschaftlich stark geprägt von neoliberalen Vorstellungen, dem „Sparen im System“. Eine Folge davon ist, dass eine substantielle Menge ihrer Bürger:innen nicht oder nur unter größeren Anstrengungen ausreichend soziale, wirtschaftliche oder auch psychologische Unterstützung durch die Allgemeinheit erhalten können. Wird Neuangekommenen nun ein halbwegs sinnvolles Maß an solcher Unterstützung gewährt, so löst dies naheliegenderweise den Eindruck von Ungerechtigkeit und Ungleichbehandlung aus. Auf diesem Nährboden der vermeintlichen Ungerechtigkeit und Illoyalität gegenüber den eigenen Bürger:innen gedeihen Gerüchte und geschürte Feindbilder besonders gut.

3. Zu alledem kommt auch noch die Funktionsweise von Social-Media-Plattform-Algorithmen und die fehlende Bildung im Umgang mit (Falsch-)Informationen online. Diese machen aufbauschende oder sogar schlicht falsche Behauptungen besonders gut sichtbar und drängen die Nutzer:innen in sogenannte „Blasen“, in die nur einseitige „Informationen“ hineingespült werden. Besonnene und abgesicherte Berichterstattung hinken diesen eher hinterher. Gleichzeitig fehlt es massiv an digitaler Kompetenz, also an der Fähigkeit, auch im Internet seriöses Wissen und zuverlässige Quellen von sogenannten „Fake News“ zu unterscheiden.

Fake News
© S. Hermann & F. Richter

Diese – nicht abschließende – Ausgangslage umreißt in etwa, wie verlockend die derzeitigen Umstände sind, absichtlich eine zerstörerische und emotionalisierte Migrationspolitik zu machen. Zu groß und zu einfach ist der damit mögliche politische Machtgewinn. Dementsprechend passiert genau das.

Die Folge: selbst verhältnismäßig kleine Gruppen von Geflüchteten reichen aus, dass von konservativen Politiker:innen und einschlägigen Medien gezielt eine Lawine der Verängstigung und Übertreibung losgetreten wird. Diese Stimmung nutzt beiden Akteursgruppen sowohl politisch (Stimmen) als auch ökonomisch (Klicks = Werbeeinnahmen). Gleichzeitig polarisiert und spaltet dieses Vorgehen die Gesellschaft. Eine nüchterne Problembetrachtung und Lösungsfindung wird stark erschwert. Oft werden damit aktiv sinnvolle Integrationsmaßnahmen verhindert, was das Problem noch weiter verschärft.


Lösungsansätze

Um aus diesem Teufelskreis auszubrechen, ist ein nüchternes, entschiedenes Handeln notwendig. Angesichts der immer dramatischeren Klimakrise und der immer größer werdenden Schere zwischen Armen und Reichen ist das ein Gebot der Stunde.

Realistisch betrachtet tun sich dabei zwei Themenfelder auf: Nah-Ziele (kurzfristige Lösungen) und Fern-Ziele (langfristige Lösungen). Entgegen der häufigen Darstellung konkurrieren diese mitnichten untereinander. Vielmehr ergänzen sie sich gegenseitig.

Nahziele:

Umgang mit Fluchtbewegungen
  • Ehrlichkeit in der Kommunikation – über die Probleme gescheiterter, konservativer „Lösungen“ wie auch Vorteile einer aktiven Integration von Asylwerber:innen in unserer Gemeinschaft.
  • Aufnehmende Städte und Gemeinden sollten entsprechende zusätzliche Unterstützung erhalten;
  • Klimaschutz muss mit Nachdruck und Sachverstand forciert werden;
  • Kostenlose Deutschkurse für Asylwerber:innen und aktive Bemühungen darum, sie in die jeweilige Gemeinde einzubinden. Das baut Vorurteile ab und ermöglicht ein besseres Miteinander;
  • Asylwerber:innen müssen endlich eine Arbeitserlaubnis bekommen. So gibt man diesen Menschen einen Sinn und ermöglicht ihnen Eigenständigkeit.
  • Mehr qualifiziertes Personal, um Asylanträge zu bearbeiten, mehr Sozialarbeiter:innen, mehr Therapeut:innen.

Fernziele:

  • Aufbau einer europäischen, solidarischen Sozialpolitik
  • Abbau schädlicher, neoliberaler Handelsabkommen
  • Dezentrale, kleinteilige und direkte Unterstützung von Drittstaatsbürger:innen vor Ort mit Bildungsangeboten und direkter finanzieller Ermächtigung.

Diese Selektion an Maßnahmen würde eine solide Grundlage dafür schaffen, um intern mit Migration wesentlich besser zurechtzukommen und um extern ihre Entstehung zu verringern. Denn am Ende sind es zu oft behebbare Gründe, weshalb Menschen ihre Heimat verlassen müssen.

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