Seit Monaten zieht die Russische Föderation Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammen – jetzt hat Putin die Krise massiv eskaliert. Die Anerkennung der separatistischen Regionen in der Ostukraine und die Entsendung von russischen Truppen hat potenziell verhängnisvolle Konsequenzen.

Es sind Szenen, wie man sie eigentlich nur aus Dokumentationen über den Kalten Krieg kennt: Reihe um Reihe stehen Fahrzeu­ge unterschiedlicher Größe, Zelte für Truppen, Panzer und Artillerie in der Nähe der russisch-ukrainischen Grenze bereit. Satellitenbilder verdeutlichen das Ausmaß des russischen Truppenaufmarsches: bis zu 100.000 Soldat:innen sollen an der Grenze zwischen Russland und der Ukraine zusammengezogen worden sein. Für eine bloße Drohgebärde ist dieser Truppenaufmarsch zu groß angelegt. Ein Angriff, so der ukrainische Generalstab, würde das ukrainische Militär leicht überwältigen.

Am 22. Februar eskalierte die Lage auf ein seit 2014 nicht mehr dagewesenes Ausmaß. Der russische Präsident Vladimir Putin unterzeichnete ein Dekret, mit dem Russland die separatistischen Gebiete Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten anerkennt. Die Rede im Vorfeld der Unterzeichnung wurde vielfach als De-Facto-Kriegserklärung Russlands an die Ukraine gesehen. In etwa einer Stunde legte er dar, warum die Ukraine aus seiner Sicht keine „echte Staatlichkeit“ aufweist. Sie stehe unter westlichem Einfluss und unterhalte ein Atomwaffenprogramm. Im Anschluss daran entsandte der Kreml russische Truppen in den Donbas. Kurz zuvor war noch von einer Entspannung in der Krise die Rede.

Dieses Vorgehen wurde geschlossen verurteilt: von US-Präsident Biden, EU-Ratspräsident Michel, EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen, sowie vom deutschen Bundeskanzler Scholz und dem französischen Präsidenten Mac­ron. Auch die österreichische Bundesregierung äußerte sich dementsprechend. Die militärische Aggression Russlands und der Bruch geltenden Völkerrechts könne nicht einfach so hingenommen werden. In einer weiteren Reaktion kündigte Scholz darüber hinaus an, dass das Pipelineprojekt Nord Stream 2 bis auf weiteres auf Eis gelegt werde.

Völkerrechtsbruch

Russlands Handeln kann aus mehreren Perspektiven betrachtet werden: einerseits die völkerrechtliche, die diplomatische und schließlich die politisch-strategische. Die völkerrechtliche Dimension des russischen Vorgehens ist recht eindeutig. Die Anerkennung von separatistischen Regionen, die damit einhergehende Infragestellung der territorialen Integrität der Ukraine und schließlich die Entsendung von weiteren russischen Truppen in die Ostukraine steht mit mehreren internationalen Verträgen in Konflikt. In all diesen Verträgen ist der Grundsatz der Gewaltlosigkeit internationaler Beziehungen und das Recht von Staaten auf territoriale Unversehrtheit verankert. Diese Bestimmungen hat Russland gebrochen – ein weiteres Mal nach der Annexion der Krim 2014.

Diplomatische Krise

Diplomatisch hat Russlands Vorgehen in der Krise die Lösung des Konflikts maßgeblich erschwert. Im Prinzip war der Friedensprozess von Minsk aus dem Jahr 2015 das Kernelement der Versuche diplomatischer Konfliktlösung. Die Minsker Vereinbarung wurde nie umgesetzt, da einerseits der zugrundeliegende Zeitplan des Truppenabzugs aus der Ostukraine nie abschließend geklärt wurde und die Autonomie für Donezk und Luhansk in der Ukraine politisch enorm umstritten war und ist. Außerdem wurde Russland nicht als Kriegspartei definiert. Das Abkommen war für Moskau letztlich ein diplomatischer Sieg auf ganzer Linie.

Soldaten marschieren
(c) Filip Andrejevic /unsplash

Gleichzeitig war es der einzige politisch mögliche Friedensprozess. Die Vereinbarung hätte die Autonomie von Donezk und Luhansk vorgesehen, durch die Anerkennung der beiden Separatistengebiete hat Vladimir Putin diesen Prozess nicht nur untergraben, sondern de facto beendet. Die territoriale Integrität der Ukraine, ein Eckpfeiler westlicher und ukrainischer Forderungen, wurde von Russland erneut unterlaufen. Die einzige diplomatische Lösung ist damit in weite Ferne gerückt.

Das bedeutet jedoch nicht, dass es völlig unmöglich ist, diplomatische Kanäle zu nutzen, um weitere Eskalationen abzuwenden. Dazu gehören aber immer zwei: Russland muss selbst auch Interesse an einer Deeskalation haben, damit verhandelt werden kann. Das ist derzeit offenbar nicht der Fall – diplomatisch bleibt also nichts anderes, als die Gesprächsbasis mit Russland nicht zusammenbrechen zu lassen.

Politisch-strategisches Vorgehen

Russland hat zwar die separatistischen Gebiete anerkannt, jedoch nicht festgelegt, in welchen Grenzen. Die Gebiete, die von den Separatisten kontrolliert werden, sind nicht mit den Grenzen der Oblaste (Verwaltungseinheiten) Donezk und Luhansk deckungsgleich. Das bedeutet, Russland hat militärisch nach wie vor alle Optionen. Moskau kann Militär bis zur Kontaktlinie (also quasi der „Front“) auffahren lassen, oder versuchen das gesamte Gebiet zu erobern. Ersteres würde sich nicht im Wesentlichen von der aktuellen Lage unterscheiden, es sind bereits russische Truppen im Donbas. Letzteres bedeutet einen militärischen Konflikt mit der Ukraine.

Joe Biden
(c) Dwinslow3 / pixabay

Wie Russland letzten Endes vorgeht, hängt stark von den Interessen und Entscheidungen Putins ab. Am wahrscheinlichsten ist eine Vermischung unterschiedlicher Interessen – etwa das Unterstreichen der russischen Vormachtstellung in Osteuropa, die Schaffung einer Landbrücke zur Krim oder die Beeinflussung der ukrainischen Innenpolitik. Der ukrainische Präsident Selenskyi mutmaßte beispielsweise: „Wir sollen in ständiger Angst leben.“

Europäische Konsequenzen

Für Österreich ist wesentlich, wie die Europäische Union auf die jüngsten Entwicklungen reagiert. Erschreckenderweise (aber nicht überraschend) muss man feststellen: gar nicht. Wer reagierte, das waren in erster Linie der deutsche Bundeskanzler und der französische Staatspräsident. Wenngleich sich Ratspräsident Michel und Kommissionspräsidentin von der Leyen sowie der Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik Borrell ebenfalls äußerten – eine gewichtige Rolle spielte die EU in dieser Krise bislang nicht. Das könnte sich nun ändern. Mit der Ankündigung, Sanktionen gegen Russland verhängen zu wollen, werden europäische Institutionen erstmals wirklich tätig.

Österreich steht nun vor der Entscheidung, die Sanktionen mitzutragen, was Bundeskanzler Nehammer bereits angekündigt hat, oder das nicht zu tun. Angesichts wirtschaftlicher Verflechtungen Österreichs mit Russland wird das zweifellos schmerzhaft für die österreichische Wirtschaft. Insbesondere, was den ohnehin bereits hohen Gaspreis betrifft.

Weiteres Vorgehen

Ein Konflikt, der über die Grenzen der Ukraine hinausgeht, ist derzeit nicht absehbar. Sowohl die NATO als auch Russland wissen, dass ein Zusammenstoß zwischen beiden leicht den Beginn des Dritten Weltkriegs markieren könnte. Weder wird deswegen die NATO die Ukraine verteidigen noch wird Russland momentan weiter nach Westeuropa vorstoßen. Damit bleiben Europa nur wenige Möglichkeiten, Moskau von einer Invasion abzuhalten bzw. doch noch Frieden zu erwirken.

Diese Optionen sind einerseits Sanktionen und andererseits die Aufrechterhaltung von Gesprächsbereitschaft. Sanktionen gegen Russland können die russische Wirtschaft extrem hart treffen. Die oberste Eskalationsstufe wäre, Russland vom internationalen Zahlungssystem SWIFT auszuschließen. Das würde Russlands gesamten internationalen Zahlungsverkehr praktisch lahmlegen. Auch ist die EU eine der wichtigsten Handelspartnerinnen Russlands – was aber gleichzeitig bedeutet, dass Sanktionen auch Europa schwer treffen könnten, vor allem was die Verfügbarkeit von Rohstoffen betrifft.

Fast noch wichtiger ist allerdings, die Europäische Union außen- und sicherheitspolitisch zu stärken. Europa muss in der Lage sein, krisenhafte Entwicklungen im Vorfeld proaktiv zu bearbeiten. Hätte man den Konflikt bereits 2014 beigelegt, hätte er jetzt nicht eskalieren können. Es gilt außerdem, durch Diversifikation und erneuerbare Energien möglichst unabhängig vom russischen Gas zu werden. Schließlich sollte man auf der zuletzt demonstrierten Einigkeit aufbauen und weiterhin versuchen, außen- und sicherheitspolitisch mit einer Stimme zu sprechen.

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