Die Bilder, die uns hier in Europa in den letzten Tagen erreicht haben schockieren, entsetzen, machen wütend: Menschen klammern sich in ihrer Verzweiflung mit bloßen Händen an Flugzeugtriebwerke, weil alles besser ist als in diesem Land zu bleiben. Nach dem Abzug der internationalen Streitkräfte, allen voran den USA, haben die Taliban, eine islamistische Terrorgruppe, binnen weniger Wochen alle großen Städte des Landes unter ihre Kontrolle gebracht, einschließlich der Hauptstadt Kabul vor wenigen Tagen. Die offiziellen afghanischen Streitkräfte kapitulieren sofort oder laufen über. Neben großer Angst um das eigene Leben hat auch der rasche Rückzug der internationalen Streifkräfte Moral und Vertrauen in die eigenen militärischen Kapazitäten und Fähigkeiten gekostet. Der Präsident Ghani und weitere Mitglieder der Regierung haben sich bereits ins Ausland abgesetzt – auch durch den fehlenden politischen Widerstand haben die Taliban leichtes Spiel bei der erneuten Eroberung des Landes 25 Jahre nach der ersten Schreckensherrschaft des „islamischen Emirats Afghanistan“.

Um zu verstehen, worauf die kollektive Angst, die Hilflosigkeit und die Perspektivlosigkeit in der afghanischen Bevölkerung fußt, möchten wir an dieser Stelle einige historisch-politische Fakten aufzeigen.
Afghanistan ist aufgrund seiner geographischen Lage und seiner immensen Rohstoffreserven wie beispielsweise Gold, Platin, Opium oder Lapis Lazuli schon immer ein strategisch wie wirtschaftlich relevantes Gebiet in der Region gewesen: Afghanistan grenzt an sechs weitere Staaten, darunter China, Iran und Pakistan. Bereits im 19. Jahrhundert kam es zu ersten Konflikten mit den britischen Kolonialherrschern in Britisch-Indien, dem heutigen Pakistan: 1893 wurde unter britischem Druck die Durand-Line, eine rund 2500 Kilometer lange Demarkationslinie (vorübergehende Grenze), zwischen dem Emirat Afghanistan und Britisch-Indien gezogen, um die britischen kolonialen Besitzungen abzugrenzen. Dabei wurde diese Linie, die heute noch die umstrittene Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan darstellt, durch Siedlungsgebiete der Volksgruppe der Paschtunen gezogen. Somit fiel ein Drittel des damaligen afghanischen Gebiets an die britische Kolonialmacht. Nach der Unabhängigkeit Pakistans im Jahr 1947 gab es Versuche diese Demarkationslinie neu zu verhandeln. Das betreffende Abkommen wurde mit den Briten, jedoch nicht mit der unabhängigen pakistanischen Regierung beschlossen – allerdings ohne jeglichen Erfolg. Die unübersichtliche Situation im angesprochenen Grenzbereich kommt auch der Taliban seit ihrer Gründung zugute, da diese sich in den autonomen Paschtunengebieten Pakistans entlang der Durand-Line relativ ungehindert und unkontrolliert bewegen können.

Afghanistan war seit jeher ein Spielball der Mächte. Ob Großbritannien, Russland, die USA oder Nachbarländer, Konflikte werden von allen Seiten angefacht.
Afghanistan war seit jeher ein Spielball der Mächte. Ob Großbritannien, Russland, die USA oder Nachbarländer, Konflikte werden von allen Seiten angefacht. ©Paul Wood

Mit der Ausrufung der Republik Afghanistan im Jahr 1973 und dem Versuch einer teilweise auch gewaltsamen kommunistischen Umstrukturierung nach sowjetischem Vorbild im Jahr 1978 begannen bald wieder Konflikte hochzukochen. Angesichts des kalten Krieges wurde die politisch-ideologische Orientierung in Richtung Sowjetunion von den USA, Saudi-Arabien und Pakistan zunehmend als Bedrohung wahrgenommen. 1979 marschierten sowjetische Truppen in Afghanistan ein und ein zehn Jahre andauernder Stellvertreterkrieg begann, bei dem die afghanischen Mudschahedin von den USA, Saudi-Arabien und Pakistan unterstützt wurden. Nach dem Abzug der Sowjets wurden seitens der afghanischen Führung reihenweise Verhandlungen und Stabilisierungsversuche unter der Führung des Mudschahedin-Kämpfers Ahmad Schah Massoud und der „Vereinten Front“ begonnen, die 1994 mit dem Erstarken der Taliban in Kandahar und der Einnahme weiterer südlicher Provinzen 1996 ein jähes Ende fand: Bis 2001 kontrollierten die Taliban weite Teile Afghanistans und riefen auch das islamische Emirat Afghanistan aus. Weiters begingen die sunnitischen Taliban ethnisch motivierte Massaker an der Zivilbevölkerung, beispielsweise an der großteils schiitischen Bevölkerungsgruppe der Hazara. Von den Vereinten Nationen wurden 15 ethnisch motivierte Massaker zwischen 1996 und 2001 in Afghanistan benannt. Diese Gräueltaten trugen auch maßgeblich zur inneren Destabilisierung des Landes bei.

Zwei Tage vor den Anschlägen des 11. September wird Ahmad Shah Massoud, der den Taliban jahrelang die Stirn geboten hatte, ermordet. Die Taliban weigerten sich Osama Bin Laden, der sich schon bald zu den Anschlägen des 11. September bekannte, an die USA auszuliefern. Im Oktober 2001 starteten die USA die Invasion Afghanistans mit der auch die Taliban zurückgedrängt werden konnten. Es folgten 20 Jahre in denen die USA versuchten dem Land eine westliche Struktur aufzupfropfen, wobei die Taliban ab 2014 mit dem sukzessiven Rückzug der internationalen Streitkräfte wieder erstarkten. Dieses Vorgehen der USA kennen wir zum Beispiel auch schon aus dem Irak. 2020 wurde dann außerdem ein Abkommen zwischen den USA unter Präsident Donald Trump und den Taliban zum schrittweisen Abzug der internationalen Streitkräfte unterzeichnet. Im Gegenzug versicherten die Taliban, dass zukünftig keine terroristische Gefahr mehr von Afghanistan ausgehen würde. Eine grobe Fehleinschätzung der US-Verhandler:innen, das an Naivität und Gleichgültigkeit kaum zu überbieten ist.

Kämpfer der Taliban im eroberten Regierungsgebäude am 15. August 2021. Der dort residierende Präsident Ashraf Ghani ist einige Tage zuvor klammheimlich aus dem Land geflohen.
Kämpfer der Taliban im eroberten Regierungsgebäude am 15. August 2021. Der dort residierende Präsident Ashraf Ghani ist einige Tage zuvor klammheimlich aus dem Land geflohen.

Dieser kurze historische Abriss soll verdeutlichen, welche maßgebliche Rolle kolonial agierende Weltmächte bei diesem Konflikt spielen. Afghanistan im Jahr 2021 und seine Zivilbevölkerung sind das Produkt von jahrzehntelangen Konflikten und Jahrhunderte alter Interessen früherer Kolonialmächte. Das Mindeste, was angesichts dieser humanitären Katastrophe aus der Position von anderen Nationalstaaten und deren Regierungen getan werden kann, ist die Aussetzung von Abschiebungen nach Afghanistan und die Anerkennung von Afghanistan als nicht sicheres Herkunftsland. Die internationale Gemeinschaft muss umgehend effektive und nachhaltige Strategien, wie zum Beispiel sichere und legale Fluchtrouten anbieten, um vor allem Frauen und Kinder vor den abermals drohenden Gräuel der Taliban zu schützen.

Quellen:

https://www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-taliban-machtuebernahme-101.html

https://www.sn.at/politik/weltpolitik/westliche-staaten-haben-evakuierungen-in-kabul-begonnen-108078907

https://www.bmbwf.gv.at/dam/jcr:9512a82d-7d58-47de-a9bb-8688e733ca8b/84021_7302.pdf

https://www.nationalgeographic.org/article/durand-line/

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