Mädchen und Frauen in Afghanistan

Montag, 16. August 2021 – Die Taliban haben mit der Übernahme von Kabul und dem Abzug der US-Truppen den Krieg gewonnen. Am ersten Tag der Taliban-Herrschaft patrouillieren sie mit von Sicherheitskräften beschlagnahmten Waffen und von der Polizei beschlagnahmten Autos die Straßen und stehen vor einer großen Herausforderung: Einen Staat zu regieren, der ihnen mehr oder weniger über Nacht übergeben wurde. Ihnen scheint bewusst zu sein, dass sie nicht alle Aufgaben, die mit der neu Gewonnen Macht einhergehen, alleine bewältigen können. Sie drängen Ladenbesitzer und auch (ehemalige) Regierungsangestellte, wie zum Beispiel den Bürgermeister von Kabul oder den Gesundheitsminister, in die Arbeit. Was dabei auffällt: Es sind überwiegend Männer, während die Straßen von Kabul von Frauen freigeräumt zu sein scheinen. Es stellt sich die Frage, wo die Frauen und Mädchen sind, die es nicht bis zum Flughafen oder gar aus dem Land geschafft haben und was die Machtübernahme der Taliban für die Rechte von Frauen bedeutet. 

Frauenrechte unter Taliban-Herrschaft

Unter dem ersten Taliban-Regime in den 1990er Jahren wurde – unter Berufung auf die Scharia – die Bildung und Berufsausübung von Frauen massiv eingeschränkt. Es gingen fast keine Mädchen zur Schule, während heute zumindest mehr als ein Drittel der Mädchen im Teenageralter lesen und schreiben kann. Außerdem mussten sich Frauen vollständig verschleiern und durften Großteils ohne männliche Begleitung sowie auf eigenen Willen das Haus nicht verlassen. Sie waren nicht einmal berechtigt, sich amtlich registrieren zu lassen.

Daher hat sich der von Aqelah Nazari-Hossain Dad (sie musste wegen anhaltender Drohungen Afghanistan verlassen und lebt mittlerweile in Europa) 2003 gegründete Verein Neswan auf die Ermächtigung von Mädchen und Frauen konzentriert und versucht ihnen beizubringen, was Unabhängigkeit und Gleichberechtigung bedeuten. Diese und viele weitere Errungenschaften von Frauen, Vereinen und Organisationen stehen nun unter Beschuss. 

Frauenrechte unter Taliban Herrschaft 2.0
Noch haben die Taliban ihr „Islamisches Emirat“ nicht ausgerufen und öffentlich klargestellt, dass sie Frauenrechte respektieren. So ist noch unklar ob für Frauen beispielsweise Studieren und Arbeiten weiterhin erlaubt sein wird, sofern diese Rechte in Einklang mit der Scharia stehen. Ein solches Bekenntnis besteht auch in zahlreichen anderen muslimischen Ländern, die unter dieser Bedingung Menschenrechtsverträge, wie das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, unterzeichnet haben. In der Praxis erlauben solche Auslegungen bekanntermaßen sehr viel Spielraum für ultrakonservative Kräfte. 

Dementsprechend lässt diese, für die Taliban auffällig gemäßigte Sprache, eher auf ein Streben nach internationaler Anerkennung schließen, zumal während des Taliban-Regimes von 1996 bis 2001 nur wenige Länder, darunter Pakistan und die Vereinigten Arabischen Emirate, diplomatische Beziehungen zum afghanischen Emirat aufrecht hielten. Eine internationale Isolation dieser Art können sie sich aus finanzieller Sicht nicht leisten. Zudem sind sie für einen längerfristigen Machterhalt zumindest auf die Unterstützung von Teilen der der Bevölkerung angewiesen, denn Gewalt allein wird dafür auf Dauer nicht ausreichen.

Die Frauen von Afghanistan glauben diesen Versprechungen allerdings nicht – zu Recht: Berichten zufolge finden bereits seit vergangenem Jahr, als die Verhandlungen zwischen den Taliban und der US gestützten afghanischen Regierung begannen, systematische Attacken auf und Morde an afghanischen Frauen, die im Journalismus-, Gesundheits- oder Justiz-Bereich tätig waren, statt. Seit der Machtübernahme werden Frauen aus gewissen Berufen verdrängt, wie z.B. aus Banken in Kandahar, wo sie angehalten werden, statt ihnen männliche Familienmitglieder zur Arbeit zu schicken. Weibliche Studierende und Lehrkräfte der Herat Universität schildern, dass ihnen der Zutritt verweigert wird, während Männer die Hochschule weiterhin betreten dürfen. Unverschleierte Frauen, die sich in die Öffentlichkeit trauen, werden mit Waffen bedroht und in ihre Häuser zurückgedrängt. Aus mehreren Teilen Afghanistans wird über Zwangsverheiratungen mit Taliban-Kämpfern berichtet. 

Demonstrationen in Kabul

Auf den Straßen von Kabul sind nun aber auch einige sehr mutige Frauen und Männer unterwegs, die die noch herrschende Ruhe, bis sich das Taliban-Regime vollständig formiert hat, nutzen wollen, um zu zeigen, dass sie sich ihre Rechte nicht so einfach nehmen lassen und dafür kämpfen werden – manche sogar direkt vor dem Regierungsgebäude. Sie wollen die Taliban dazu zwingen, ihre Versprechungen, die sie der Welt und der Bevölkerung gegeben haben, einzulösen und riskieren damit ihr Leben. Dabei kam es bereits zu zahlreichen Verletzten und Toten. In Anbetracht dessen scheint das Versprechen der Taliban, auf Gewalt zu verzichten, bereits gebrochen. Zudem häufen sich Berichte über Rachemorde und Hausdurchsuchungen bei Journalisten, Ortskräften und ehemaligen Regierungsmitgliedern. 

Der Westen darf die Mädchen und Frauen in Afghanistan nicht vergessen

(c) United Nations

Umso entscheidender wird es sein, dass jene Nationen, die mit den Taliban nun in Verhandlung treten, ganz genau hinsehen und

etwaige finanzielle Leistungen an die Einhaltung von Menschen- sowie Frauenrechten knüpfen.

Während des ersten Taliban-Regimes wurde über das Leid und die Lebenslage der afghanischen Frauen viel zu wenig berichtet und kaum gehandelt. Das darf nicht wieder passieren. Wir dürfen die Mädchen und Frauen, wie auch die LGBTIQ+ Community, deren Rechte und Leben extrem gefährdet sind, jetzt nicht vergessen. Wird ihnen ihre Stimme und Sichtbarkeit genommen, müssen wir im Westen umso lauter von ihrer Notlage berichten. Das ist das Mindeste, was wir tun können. 

Auch seitens der Europäischen Union aus muss es aktive Hilfestellungen für die Frauen, Mädchen und Queer-Community geben. Gerade Frauenrechtler:innen und feministische Vorkämpfer:innen müssen mit ihren Familien schnellstens evakuiert und in Sicherheit gebracht werden. Es braucht endlich sichere und legale Fluchtrouten und gezielte Unterstützung von Organisationen vor Ort, die Frauen, Mädchen und der Queer-Community Schutz und Hilfe vor Ort bieten.


„Was mit Afghanistan passiert, kann davon bestimmt werden, was mit den Frauen Afghanistans passieren wird. Mit anderen Worten, die Zukunft der Frauen Afghanistans ist die Zukunft Afghanistans. Wenn das in die richtige Richtung geht, geht das Land in die richtige Richtung. Wenn das kompromittiert, unterdrückt, verletzt wird, dann ist das auch Afghanistan.“ – Roya Rahmani (Frauenaktivistin, die 2018 als erste weibliche Botschafterin Afghanistans in die USA kam)

„Nach Erstveröffentlichung dieses Artikels haben sich die Ereignisse, wie erwartet, überschlagen. Inzwischen rät die Taliban offiziell allen Frauen, zu ihrer eigenen Sicherheit nicht mehr außer Haus zu gehen, da „Die Soldaten nicht gelernt haben, sie zu respektieren“. Die Lage für Mädchen und Frauen wird von Tag zu Tag schlimmer.“

QUELLEN

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