23.08.2021

Was haben die Taliban nun vor? Wird Afghanistan erneut zu einer Drehscheibe für den internationalen Terrorismus? Steht ein Konflikt in Zentralasien bevor? Welche geopolitischen Konsequenzen folgen aus der Übernahme Afghanistans durch die Taliban? Ein Blick in die Zukunft.

“I cannot and will not ask our troops to fight on endlessly in another country’s civil war, taking casualties, suffering life-shattering injuries, leaving families broken by grief and loss.” Diese Worte von US-Präsident Joe Biden vom 16. August markieren das denkbar unrühmliche Ende des fast 20 Jahre andauernden Kriegs der USA in Afghanistan. Nach knapp zehn Tagen des Vormarsches hatten die Taliban das gesamte Land relativ widerstandslos unter ihre Kontrolle gebracht. Damit verfügen sie über eine weitgehend intakte Infrastruktur, eine mehr oder minder funktionsfähige Verwaltung sowie die Ausrüstung der afghanischen Streitkräfte.

Zum jetzigen Zeitpunkt lassen sich zwei konkrete Einschätzungen zur Lage in Afghanistan vornehmen: erstens werden sich die Taliban in erster Linie auf Afghanistan selbst konzentrieren und versuchen, Einmischungen von außen vorzubeugen und zweitens werden verschiedene Akteure versuchen, das Machtvakuum für ihre jeweiligen geopolitischen Interessen auszunutzen.

Keine Einmischung von außen

Obwohl die Taliban meistens (zurecht) als Islamisten bezeichnet werden, sind sie vor allem Teil der paschtunischen Bevölkerungsgruppe Afghanistans. Ihre Ideologie ist stark vom saudischen Wahhabismus geprägt, jedoch vor allem im paschtunischen Stammesrecht verwurzelt. Das führt dazu, dass die Taliban feindselig gegenüber jeglicher äußeren Einmischung sind. Gleichzeitig bedeutet das, dass ihr primäres Interessens- und Aktivitätsgebiet Afghanistan ist. Sie haben (derzeit) keinerlei regionale oder gar globale Ambitionen.

Ganz im Gegenteil: in den vergangenen Jahren haben die Taliban nicht nur die USA, sondern vor allem auch den IS in Afghanistan (als „Einmischung von außen“) bekämpft. Zudem werden sie unter allen Umständen versuchen zu verhindern, dass es von Afghanistan aus erneut zu internationalen terroristischen Aktivitäten kommt – so wie die Anschläge vom 11. September 2001 durch Al-Qaida, die die US-Invasion in Afghanistan erst ausgelöst hatten. Das gilt es aus ihrer Sicht um jeden Preis zu vermeiden. Umso weniger überrascht der vergleichsweise versöhnliche Tonfall, den die Taliban in ihrer ersten Pressekonferenz am 17. August an den Tag gelegt haben.

Abu Rashid, ein ehemaliges Talibanmitglied und nun Offizier des Daesh, hier zu sehen mit weiteren IS-Kämpfern in einem afghanischen Dorf
Abu Rashid, ein ehemaliges Talibanmitglied und nun Offizier des Daesh, hier zu sehen mit weiteren IS-Kämpfern in einem afghanischen Dorf, © Al Jazeera

Ob die Taliban dies zur Gänze verhindern können, ist fraglich. Zu groß und unkontrollierbar ist vor allem die südliche Gebirgsregion an der Grenze zu Pakistan, von wo aus auch die Taliban operiert haben. Zudem sind die Islamisten in einen moderaten und einen radikalen Flügel gespalten. Es ist daher nicht auszuschließen, dass terroristische Gruppen wie der IS oder Al-Qaida von lokalen Gruppen unterstützt werden. Es ist sogar denkbar, dass es Überläufer zum IS geben wird, obwohl dieser mit den Taliban verfeindet ist. Dennoch werden die Taliban versuchen, groß angelegte terroristische Operationen zu verhindern. Darüber hinaus ist derzeit noch unklar, inwieweit der sich bereits formierende Widerstand gegen die Taliban durch Ahmad Massoud auf die Stabilität des Landes auswirken wird.

Geopolitisches Konfliktpotenzial

Gleichzeitig beginnen andere Mächte bereits jetzt mit dem Versuch, das Taliban-Regime ihnen gegenüber gewogen zu stimmen: Pakistan, Russland, die Türkei und China haben allesamt strategische Interessen in Afghanistan. Pakistan, als unmittelbarer Nachbar, hat die Taliban bereits seit Längerem unterstützt, um ein Regime zu installieren, das Islamabad freundlich gesinnt ist – in erster Linie, um einen Verbündeten gegen Indien zu gewinnen. Russland hat ein strategisches Interesse an der afghanischen Geografie, da es eine Militärbasis im benachbarten Tajikistan unterhält. Und die Türkei und China haben vor allem Interesse an den afghanischen Rohstoffen: Ressourcen wie Kupfer, Eisen, Lithium und Kohle sowie wertvolle Materialien wie Gold, Silber, Chrom oder auch Edelsteine und Marmor. Im Moment scheint es so, als würden sich alle diese Parteien mit den Taliban arrangieren können.

Konfliktpotenzial – sobald die Interessen dieser internationalen Akteure und jene der Taliban divergieren. Darüber hinaus wird der benachbarte (schiitische) Iran die Ereignisse in Afghanistan genau beobachten. Aus Sicht Teherans mag es sein, dass die Taliban ein Sicherheitsrisiko für die östlichen Provinzen bedeuten. Darüber hinaus werden sich die neuen afghanischen Machthaber wahrscheinlich weiterhin über den illegalen Handel mit Opiaten finanzieren. Das hat Auswirkungen auf alle Staaten, über die Heroin nach Europa geschmuggelt wird. Afghanistan ist nach wie vor der Heroinproduzent Nummer eins und die Droge ist die Haupteinnahmequelle der Taliban.

Karte von Afghanistan

Einen interessanten Vorschlag machte der österreichische Politikwissenschafter Heinz Gärtner: Afghanistan solle sich in Zentralasien gegenüber allen Regional- bzw. Großmächten strikt neutral verhalten. Basierend auf den österreichischen Erfahrungen nach 1955 wäre eine politische Neutralität für die Taliban durchaus ein gangbarer Weg. Dies würde auch dem Ziel der Taliban entsprechen, international ein niedriges Profil beizubehalten. Gelingt dies, werden die Herausforderungen Afghanistans weniger geopolitisch sein, sondern verstärkt innenpolitischer Natur bleiben. Doch die Tatsache, dass in Afghanistan so viele geopolitische Interessen aufeinander prallen, macht einen neuerlichen Konflikt wahrscheinlich.

Quellen:

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